Update des BVerfGE-Datensatzes Link to heading

Zunächst eine Routine-Nachricht: ich habe am 8. März 2024 ein Update für den Corpus der amtlichen Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts (C-BVerfGE) veröffentlicht. Der Datensatz ist Open Access, urheberrechtsfrei und in vielen bekannten Formaten (PDF, TXT, CSV und HTML) verfügbar.

Der Datensatz enthält nun 922 Entscheidungen der amtlichen Sammlung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) von 1997 bis Ende 2022 (einschließlich Band 164), plus einige Entscheidungen aus früheren Jahren.

Auf seiner Webseite veröffentlicht das BVerfG offiziell Entscheidungen erst ab 1998, aber in den letzten Jahren stellt das Gericht immer mehr ältere Entscheidungen der amtlichen Sammlung online. Eine Entwicklung, die ich sehr begrüße.

Überlegungen zur amtlichen Sammlung des BVerfG Link to heading

Normalerweise schreibe ich keine separaten Artikel zu Updates, aber dieses mal habe ich mir etwas Besonderes überlegt.

Der Datensatz enthält auch eine Vielzahl von automatisiert erstellten Diagrammen, die ich ursprünglich rein zur Qualitätskontrolle eingebaut hatte, aber die in den vergangenen Jahren auch immer wieder das Interesse der Nutzer:innen und Kolleg:innen auf Social Media geweckt haben.

Ich habe daher eine Auswahl dieser Diagramme in diesem Artikel gesammelt und ein paar meiner Gedanken dazu aufgeschrieben, in der Hoffnung das diese Ideen weitere empirische Forschung zum BVerfG anregen könnten.

Tipp
Alle in diesem Artikel gezeigten Diagramme können in hochauflösender Fassung und urheberrechtsfrei von der Zenodo-Seite des Datensatzes oder über diesen Link heruntergeladen werden.

Datengrundlage und Einschränkungen Link to heading

Info
Fobbe, S. (2024). Corpus der amtlichen Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts (C-BVerfGE) (2024-03-08) [Data set]. Zenodo. https://doi.org/10.5281/zenodo.10783177

Statistik hat mit Jura eines gemeinsam: sehr lange Allgemeine Geschäftsbedingungen, die niemand liest und schnell weiterscrollt. Ich versuche mich kurz zu fassen, aber Statistiken brauchen Angaben zur Datengrundlage und den Einschränkungen, ansonsten passieren böse Dinge.

  1. Die Diagramme sind primär deskriptive Statistiken, die den Inhalt des Datensatzes abbilden; sie sind nicht auf eine bestimmte Forschungsfrage zugeschnitten, sondern sollen den Inhalt und die Qualität des Datensatzes abbilden. Die Interpretationen wären sauberer, wenn man sich etwas genauer fasst (z.B. streng nur bestimmte Jahre untersucht).
  2. Offiziell veröffentlicht das Gericht seine Entscheidungen erst ab 1998 online, aber in den letzten Jahren kommen immer wieder ältere Entscheidungen hinzu. Mehr dazu im ersten Diagramm.
  3. Dieser Datensatz sammelt nur Entscheidungen der amtlichen Sammlung, die auch in der Auflistung auf der BVerfG-Webseite enthalten sind. An manchen Stellen ist die Auflistung auf der Webseite fehlerhaft. Ich habe mich bemüht, alles zu korrigieren und der gedruckten Fassung anzupassen, aber Fehler sind nie ausgeschlossen.

Weitere Details und Hinweise zur Benutzung des Datensatzes sind im Codebook dokumentiert.1

Entscheidungsvolumen des Gerichts Link to heading

Das erste und wichtigste Diagramm stellt den zeitlichen Umfang des Datensatzes dar. Jede Entscheidung wird an einem konkreten Datum verkündet und dieses Datum ist im Datensatz enthalten. Das Jahr der Verkündung ist im Datensatz als “Entscheidungsjahr” hinterlegt.

Für den Zeitraum ab ca. 1997 können wir die Daten nutzen, um den quantitativen Inhalt der BVerfGE näher zu bestimmen.2 Wir sehen deutliche Schwankungen. In manchen Jahren sind weniger Entscheidungen enthalten, in manchen mehr, aber manche Entscheidungen sind auch sehr, sehr lang und ich vermute hier liegt ein Fall von “weniger ist mehr” vor.

Für den Zeitraum von 1951 bis 1996 sehen wir vor allem wieviel Nachholbedarf Deutschland in Sachen Open Data hat. Das die wichtigsten Gerichtsentscheidungen des deutschen Rechtsstaates in diesem Zeitraum nur aus der Schweiz über Professor Tschentscher (Universität Bern) zu beziehen sind, spricht Bände.

Bedauerlicherweise sind es nicht die Bände der amtlichen Sammlung.

Länge der Entscheidungen Link to heading

Warnung
Das Diagramm ist logarithmisch (1, 10, 100, 1000 usw.) skaliert. Eine Interpretationshilfe findet sich bei Wikipedia.

Wo wir schon bei der Länge der Entscheidungen sind: die Länge der Texte in der BVerfGE scheint einen sehr starken Schwerpunkt bei einer Länge von ca. 10.000 Tokens (~ Wörter) zu haben. Sieht man selten so eindeutig, da steckt vermutlich noch mehr dahinter.

Die Anzahl Tokens bezieht sich hier auf die online gestellte PDF-Fassung inklusive aller Sondervoten und automatisierter Beigaben (z.B. Zitiervorschlag). In der gedruckten Fassung wird die Länge sicher abweichen, ein Vergleich wäre interessant.

Insbesondere wäre es interessant, die Länge der Entscheidungen nach Jahren, Bänden oder Dekaden aufzuschlüsseln.

Die Zwillingssenate Link to heading

Einiges an Neugier ausgelöst hat meine Frage, ob der 2. Senat des BVerfG wichtiger als der 1. Senat ist. Jedenfalls haben es vom 2. Senat in jüngerer Zeit merklich mehr Entscheidungen in die amtliche Sammlung (BVerfGE) geschafft.

Wenn man die variable Veröffentlichungspraxis herausrechnet (im Diagramm sind alle online verfügbaren BVerfGE-Entscheidungen enthalten) und nur strikt auf die Entscheidungen ab 1998 (N = 802) schaut, ist das Verhältnis noch extremer: 346 (1. Senat) zu 456 (2. Senat).

Knapp 31% mehr Entscheidungen in der BVerfGE für einen Senat lässt sich mit natürlichen Schwankungen im Fallaufkommen kaum erklären. Da wird ein materieller Grund im Raum stehen (z.B. Geschäftsverteilung, wie von Prof. Dr. Christoph Herrmann auf Linkedin angesprochen, Länge, thematische Auswahl, Qualität der Begründung, “Bedeutung” usw.).

Jedenfalls ein Thema, welches die Forschung unbedingt vertiefen sollte.

Senate, Kammern und das Plenum Link to heading

Die amtliche Sammlung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) besteht ganz überwiegend aus Senatsentscheidungen. Kammerentscheidungen schaffen es fast nie in die amtliche Sammlung, Plenarentscheidungen sind allgemein einfach sehr selten.

Es sind wirklich nur 3 Kammerentscheidungen in diesem Diagramm gezeigt. Zwischenzeitlich gab es eine Sammlung der Kammerentscheidungen, diese wurde aber wieder eingestellt. In der amtlichen Sammlung sieht man Kammerentscheidungen trotzdem kaum.

Dieses Diagramm hatte ich mich fast nicht auf Social Media zu posten getraut, weil ich dachte es wäre zu offensichtlich und langweilig. Mittlerweile ist es auf meinem Linkedin-Profil aber der am dritt meisten angesehene Beitrag der letzten 365 Tage?! Vielleicht spielt der Algorithmus verrückt oder es verbirgt sich dahinter eine profunde Wahrheit.

Rechtswissenschaft, bitte übernehmen Sie.

Beschlüsse und Urteile Link to heading

Das Verhältnis von Beschlüssen zu Urteilen in der amtlichen Sammlung ist schon interessanter. Wir sehen hier ein Ungleichgewicht von ca. 78% (Beschlüsse) zu ca. 22% (Urteile).

Das ist nicht unerwartet. Mündliche Verhandlungen sind aufwändig, d.h. sie sollten naturgemäß seltener vorkommen. Allerdings sind Entscheidungen der amtlichen Sammlungen die wichtigsten des Gerichts. Ist dieses Verhältnis angemessen? Offene Forschungsfrage.

Verfahrensarten Link to heading

Info

Liste aller Registerzeichen

Fobbe, S. (2021). Aktenzeichen der Bundesrepublik Deutschland (AZ-BRD) (1.0.1) [Data set]. Zenodo. https://doi.org/10.5281/zenodo.4569564

Welche Verfahrensarten haben in jüngerer Zeit die wichtigsten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts produziert? In der amtlichen Sammlung (BVerfGE) ab 1997 dominieren diese drei Verfahrensarten deutlich:

  1. Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a, 4b GG (BvR)
  2. Konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG (BvL)
  3. Verfassungsstreitigkeiten zwischen Bundesorganen nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG (BvE)

Eindeutig überrascht hat mich bei dieser Analyse die hohe Zahl der Entscheidungen, die auf Richtervorlagen (konkrete Normenkontrolle) zurückgehen und letztendlich zu einer wichtigen Entscheidung des BVerfG mit anschließendem Abdruck in der amtlichen Sammlung geführt haben.

Vielleicht sollte es mich aber nicht überraschen, denn Richter:innen der Fachgerichte sind extrem nah und intensiv mit ihren Rechtsgebieten befasst, da sollte es Ihnen im täglichen Geschäft deutlich auffallen, wenn es ein starkes Missverhältnis zwischen den Idealen der Verfassung und dem anwendbaren Recht gibt.

In der Ausbildung und auch sonst hatte ich oft den Eindruck, dass Richtervorlagen eher vergebliche Liebesmüh sind und die abstrakte Normenkontrolle wichtiger ist. Das scheint aber eine verzerrte Realität gewesen zu sein. Natürlich blockt das BVerfG allgemein fast alle Eingaben hart ab, aber die Zahlen in der amtlichen Sammlung sprechen für sich.

Die führende Rolle von Verfassungsbeschwerden überrascht mich gar nicht. Auch nicht, dass der Organstreit auf Platz 3 gelandet ist. Bundesorgane kabbeln sich gerne.

Also, liebe Richter:innen — immer her mit den Vorlagen, es lohnt sich!

Präsident:innen und Vize-Präsident:innen Link to heading

Warnung
Die Präsidentinnenschaft von Jutta Limbach begann 1994. In dem vor allem ab 1997 vollständigen Datensatz ist ihre Amtszeit daher leicht unterrepräsentiert.

Unter welchen Präsident:innen des BVerfG sind in jüngerer Zeit die größte Anzahl wichtiger Entscheidungen ergangen? In der amtlichen Sammlung (BVerfGE) ab 1997 ist das Ranking:

  1. Andreas Voßkuhle (303 Entscheidungen, ca. 10 Jahre Präsident)
  2. Hans-Jürgen Papier (253 Entscheidungen, ca. 8 Jahre Präsident)
  3. Jutta Limbach (227 Entscheidungen, ca. 8 Jahre Präsidentin)

Unter den Vize-Präsident:innen des BVerfG erging die größte Anzahl wichtiger Entscheidungen unter Ferdinand Kirchhof. In der amtlichen Sammlung (BVerfGE) ab 1997 ist das Ranking:

  1. Ferdinand Kirchhof (261 Entscheidungen, ca. 8,5 Jahre Vize-Präsident)
  2. Winfried Hassemer (207 Entscheidungen, ca. 6 Jahre Vize-Präsident)
  3. Hans-Jürgen Papier (144 Entscheidungen, ca. 4 Jahre Vize-Präsident)

Präsident:innen und Vize-Präsident:innen des BVerfG üben vor allem innerhalb ihres eigenen Senates den meisten Einfluss aus, da sie durch das Amt ebenfalls Senatsvorsitzende werden. Es ist allerdings eine spannende Frage, ob die (Vize-)Präsidentschaft auch auf den jeweils anderen Senat einen inhaltlichen, organisatorischen oder anderweitigen Einfluss ausübt.

Jedenfalls wird das Gericht durch seine Spitze in der Öffentlichkeit repräsentiert, eine Rolle die in den letzten Jahren immer stärker zu Geltung kommt. Die Verbindung aus Öffentlichkeitsarbeit und wichtigen Entscheidungen (bezogen auf die amtliche Sammlung) ist ebenfalls für weitere Forschung interessant.

Info

Literaturhinweis

Swalve, T. (2022). Does group familiarity improve deliberations in judicial teams? Evidence from the German Federal Court of Justice. Journal of Empirical Legal Studies, 19(1), 223-249. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/pdfdirect/10.1111/jels.12308

Tilko Swalve hat sich in einem neueren Paper die Rolle der Senatspräsident:innen am Bundesgerichtshof angesehen. Vielleicht ist das eine Inspiration für die Forschung mit Bezug zum BVerfG?

Changelog für Version 2024-03-08 Link to heading

  • Vollständige Aktualisierung der Daten (bis einschließlich Band 164)
  • Über 40 neue historische Entscheidungen aus dem Zeitraum 1970 bis 1998 (u.a. Mauerschützen)
  • Versionskontrolle aller verwendeten Software mit Docker
  • Vereinfachung der Repository-Struktur
  • Erstellung des Source-Archivs aus dem Git Manifest
  • Entfernung des Submodules und Überführung der Funktionen in das Hautprojekt
  • Entfernung des GPG Checks im Codebook um einen durchgängig automatisierten Prozess zu gewährleisten. Mit GPG signiert werden in Zukunft Compilation Report, Codebook und CSV-Datei der Signaturen.
  • Funktionen werden nicht mehr vollständig im Compilation Report abgedruckt um die Fehlerrate bei der LaTeX-Kompilierung zu senken

  1. Ein “Codebook” ist im Grunde eine Anleitung bzw. ein Benutzerhandbuch für einen Datensatz. ↩︎

  2. Offiziell ab 1998, aber der Umfang für 1997 sieht eigentlich ganz gut aus. ↩︎