Update des BVerwG-Datensatzes Link to heading

Seit dem 13. März 2024 ist ein neues Update für den Corpus der Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (CE-BVerwG) online. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) ist das oberste Verwaltungsgericht der Bundesrepublik Deutschland.

Neu sind in Version 2024-03-13 vor allem die Daten mit der aktuellen Rechtsprechung. Am Code des Datensatzes hat es nur wenige Routine-Änderungen gegeben. Das Changelog im Zenodo-Eintrag gibt dazu genauer Auskunft.

Der Datensatz enthält nun alle 27.200 Urteile und Beschlüsse, die das BVerwG seit 2002 bis zum Stichtag am 13. März 2024 in seiner amtlichen Datenbank veröffentlicht hat.

Der Datensatz ist Open Access, urheberrechtsfrei und in vielen verbreiteten Formaten verfügbar. Die Features können sich sehen lassen:

  • 31 Variablen in der CSV-Variante
  • Fortlaufende Aktualisierung
  • Urheberrechtsfreiheit
  • Offene und plattformunabhängige Formate (PDF, TXT und CSV)
  • Linguistische Kennzahlen
  • Umfangreiches Codebook
  • Compilation Report erläutert den Prozess der Erstellung
  • Dutzende Diagramme und Tabellen für alle Zwecke (im ZIP-Archiv ‘Analyse’).
  • Jedes Diagramm liegt in einem für den Druck (PDF) und das Web (PNG) optimierten Format vor
  • Kryptographische Signaturen
  • Veröffentlichung des Source Codes (Open Source)

Gedanken zur Rechtsprechung des BVerwG Link to heading

Ähnlich wie in meinem Beitrag zur amtlichen Sammlung des Bundesverfassungsgerichts habe ich einige Diagramme ausgewählt und meine Gedanken dazu aufgeschrieben.

Auch wenn die Diagramme ursprünglich zur Qualitätskontrolle erstellt wurden und rein deskriptiv sind, werfen sie doch neue Forschungsfragen auf. Vielleicht regen sie ja ein wenig neue empirische Forschung zum BVerwG an!

Tipp
Alle in diesem Artikel gezeigten Diagramme können in hochauflösender Fassung und urheberrechtsfrei von der Zenodo-Seite des Datensatzes oder über diesen Link heruntergeladen werden.

Datengrundlage und Einschränkungen Link to heading

Info
Fobbe, S. (2024). Corpus der Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (CE-BVerwG) (2024-03-13) [Data set]. Zenodo. https://doi.org/10.5281/zenodo.10809039

Statistik hat mit Jura eines gemeinsam: sehr lange Allgemeine Geschäftsbedingungen, die niemand liest und schnell weiterscrollt. Ich versuche mich kurz zu fassen, aber Statistiken brauchen Angaben zur Datengrundlage und den Einschränkungen, ansonsten passieren böse Dinge.

  1. Die Diagramme sind primär deskriptive Statistiken, die den Inhalt des Datensatzes abbilden; sie sind nicht auf eine bestimmte Forschungsfrage zugeschnitten, sondern sollen den Inhalt und die Qualität des Datensatzes laufend überwachen.
  2. Datengrundlage sind die offiziell in der amtlichen Datenbank am Stichtag 13. März 2024 online veröffentlichten Entscheidungen (N = 27.200) des BVerwG.
  3. Da das BVerwG Daten streng erst ab 2002 veröffentlicht, sind die Diagramme für fast alle Jahre aussagekräftig. Nur für 2024 sind sie nicht vollständig, weil der Stichtag im März 2024 liegt.
  4. Dieser Datensatz sammelt nur Entscheidungen, die in der amtlichen Datenbank des BVerwG veröffentlicht sind. Das bedeutet alle begründeten Entscheidungen des Gerichts, aber nicht solche ohne Begründung. Entscheidungen ohne Begründung sind bei Revisionsgerichten die ganz überwiegende Regel, d.h. es kann nicht ohne weiteres auf die gesamte Tätigkeit des Gerichts geschlossen werden.

Weitere Details und Hinweise zur Benutzung des Datensatzes sind im Codebook dokumentiert.1

Entscheidungsvolumen des Gerichts Link to heading

Warnung
Der Balken ganz rechts steht für 2024. Dieser war zum Stichtag im März 2024 natürlich noch unvollständig und kann daher inhaltlich nicht bewertet werden.

Das erste und wichtigste Diagramm bildet die zeitliche Abdeckung des Datensatzes ab. Jede Entscheidung wird an einem konkreten Datum verkündet und dieses Datum ist im Datensatz enthalten. Das Jahr der Verkündung ist im Datensatz als “Entscheidungsjahr” hinterlegt.

Durch dieses Diagramm lässt sich zunächst der Umfang des Datensatzes etwas näher aufschlüsseln. Es lassen sich daraus aber auch inhaltliche Schlüsse ziehen.

Wirklich auffällig ist, wie dramatisch die Anzahl der veröffentlichten Entscheidungen des BVerwG in den letzten 20 Jahren abgenomen hat. Ab 2014 scheint sich die Zahl auf niedrigem Niveau etwas zu stabilisieren, aber der Vergleich zwischen den Zeiträumen a) 2002 bis 2013 und b) 2014 bis 2023 ist wirklich deutlich.

Ich schreibe dazu demnächst noch mehr, aber die Ursachen dafür sind eine dringende Forschungsfrage. Arbeitet das Gericht weniger? Wird es durch weniger umfangreiche Verfahren dennoch voll ausgelastet? Hat sich die Publikationspraxis verändert?

Spruchkörper Link to heading

Warnung
Die ersten beiden Revisionssenate und die beiden Wehrdienstsenate werden offiziell vom BVerwG inhaltsgleich mit “1” und “2” in den jeweiligen Aktenzeichen kodiert. Zur Unterscheidung müsste zusätzlich das Registerzeichen herangezogen werden. Das ist beim vollständigen Aktenzeichen kein Problem, aber in diesem Diagramm nicht der Fall, da es sich um eine einfache Frequenztabelle für die Variable handelt.

Dieses Diagramm zeigt die Anzahl veröffentlichter Entscheidungen für jeden Spruchkörper des BVerwG. Die Senate 1 bis 11 sind Revisions- und Wehrdienstsenate. Die Nummer 20 ist dem Fachsenat zugeordnet. Der Fachsenat ist zuständig, wenn Behörden dem Gericht ihre Akten nicht aushändigen wollen.

Hier stellt sich zunächst die Frage, warum manche Senate deutlich “produktiver” sind als andere. Die Unterschiede zwischen den Senaten nach dem Volumen veröffentlichter Entscheidungen sind gravierend.

Die Balken für den 1. und 2. Senat lassen sich aus diesem Diagramm leider nicht bewerten (weil Doppel-Kodierung mit den Wehrdienstsenaten), sollten aber in Zukunft genauer untersucht werden. Bei den anderen Senaten lassen sich aber Bewertungen vornehmen.

Warum sind für den 4. Senat über 1000 Entscheidungen mehr verfügbar als für den 7. Senat? Die geringeren Zahlen für den 10. und 11. Senat liegen vermutlich daran, dass die Senatsnummern noch nicht so lange vergeben sind. Beim Vergleich von 4. und 7. Senat dürfte das “Senatsalter” nicht relevant sein, denn der 8. und 9. Senat können beide mehr Entscheidungen als der 7. vorweisen.

Ein möglicher Faktor könnte die Anzahl der Richter:innen sein, denn das BVerwG schreibt, das die Senate mit entweder 5 oder 6 Richter:innen besetzt sein können, je nach Fallaufkommen.

Geschäftsverteilung? Liegt es an den Themen? An den Richter:innen? Ich weiß es nicht, aber es ist ein Ansatz für weitere Forschung.

Verfahrensarten Link to heading

Warnung
Das Diagramm ist logarithmisch (1, 10, 100, 1000 usw.) skaliert. Eine Interpretationshilfe findet sich bei Wikipedia.

Welche Verfahrensarten produzieren die meisten Entscheidungen des BVerwG? In der amtlichen Datenbank ab 2002 dominieren diese fünf Registerzeichen:

  1. [B] Nichtzulassungsbeschwerde oder Beschwerde (Verwaltungsstreitsachen) nach § 133 VwGO
  2. [C] Revision (Verwaltungsstreitsachen) nach §§ 49, 132 VwGO
  3. [A] Erstinstanzliche Klage, inklusive Wiederaufnahmeverfahren (Verwaltungsstreitsachen) nach § 50 VwGO
  4. [BN] Nichtzulassungsbeschwerde (Normenkontrollsachen) nach § 133 VwGO
  5. [WB] Verfahren nach Wehrbeschwerdeordnung
Info

Liste aller Registerzeichen

Fobbe, S. (2021). Aktenzeichen der Bundesrepublik Deutschland (AZ-BRD) (1.0.1) [Data set]. Zenodo. https://doi.org/10.5281/zenodo.4569564

Dass die Nichtzulassungsbeschwerde in Verwaltungsstreitsachen auf Platz 1 steht, ist kaum überraschend. Die Zulassung der Revision zum BVerwG ist der Ausnahmefall, die Verweigerung die Regel. Wenn Parteien weiter prozessieren wollen, müssen sie zwangsläufig Nichtzulassungsbeschwerde erheben.

Die Revision in Verwaltungsstreitsachen auf Platz 2 ist ebenfalls erwartbar, ist sie doch das inhaltliche Hauptgeschäft des BVerwG. Hier sollte man im Hinterkopf behalten, dass Verfahren nach einer erfolgreichen Nichtzulassungsbeschwerde als Revision weitergeführt werden.

Überrascht hat mich als nicht-Verwaltungsrechtler, dass die erstinstanzliche Klage eine so große Rolle in der Rechtsprechung des BVerwG spielt und auf Platz 3 der häufigsten begründeten Entscheidungen landet. Dass oberste Gerichte in erster Instanz tätig werden ist die absolute Ausnahme, wird aber in letzten Jahren vermehrt von der Politik forciert, weil der Instanzenzug auf diese Weise abgekürzt und Entscheidungen beschleunigt werden sollen.

Vielleicht lässt sich die geringere Publikationsrate der letzten Jahre durch mehr erstinstanzliche Verfahren erklären?

Die hohe Anzahl von Nichtzulassungsbeschwerden in Normenkontrollverfahren ist ebenfalls interessant, besonders im Vergleich mit den sehr wenigen veröffentlichten Revisionen in Normenkontrollsachen (CN).

Über Verfahren nach der Wehrbeschwerdeordnung weiß ich wenig, aber sie scheinen in der Praxis des Gerichts eine wichtige Rolle zu spielen.

Länge der Entscheidungen Link to heading

Warnung
Das Diagramm ist logarithmisch (1, 10, 100, 1000 usw.) skaliert. Eine Interpretationshilfe findet sich bei Wikipedia.

Die Verteilung der Länge der Entscheidungen des BVerwG zeigt eine interessante trimodale Verteilung mit Maxima bei jeweils ~200 Tokens, ~400 Tokens und ~1500 Tokens. Tokens sind “Wörter” im weitesten Sinne. Ich würde vermuten, da verstecken sich drei verschiedene Begründungstypen dahinter. Das müsste man sich mal genauer ansehen und vermutlich auch nach Registerzeichen aufschlüsseln.

Grundsätzlich wird in dieser Analyse alles gezählt, was in den veröffentlichten PDF-Dateien als Text Layer vorhanden ist, d.h. Deckblatt, Leitsätze, Tatbestand, Gründe usw. Mir ist bei Stichproben bisher nicht aufgefallen, dass bestimmte Abschnitte systematisch fehlen, aber ich habe das nicht erschöpfend untersucht.

Präsidentin:innen und Vize-Präsident:innen Link to heading

Unter diesen drei Präsident:innen des BVerwG sind in jüngerer Zeit die größte Anzahl Entscheidungen ergangen:

  1. Marion Eckertz-Höfer (9.296 Entscheidungen / ca. 6,5 Jahre Amtszeit)
  2. Eckart Hien (8.346 Entscheidungen / ca. 4,5 Jahre Amtszeit)
  3. Klaus Rennert (6.981 Entscheidungen / ca. 7 Jahre Amtszeit)

Und unter den Vize-Präsident:innen des BVerwG sind in jüngerer Zeit die größte Anzahl Entscheidungen unter diesen dreien ergangen:

  1. Marion Eckertz-Höfer (8.346 Entscheidungen / ca. 4,5 Jahre Amtszeit)
  2. Michael Hund (6.599 Entscheidungen / ca. 4,5 Jahre Amtszeit)
  3. Josef Christ (3.117 Entscheidungen / ca. 3,5 Jahre Amtszeit)

Ganz klar sticht aus dieser Analyse Marion Eckertz-Höfer heraus, die als Präsidentin und auch als Vize-Präsidentin das Gericht leitete und in deren beiden Amtszeiten eine gewaltige Anzahl an Entscheidungen fallen. Besteht hier ein Zusammenhang zwischen Amtsinhaberin und Produktivität des Gerichts? Oder ist es Zufall?

Oder ist es ein zeitabhängiger Effekt, da das BVerwG in früheren Zeiten mehr begründete Entscheidungen traf bzw. veröffentlichte? Jedenfalls scheint die Länge der Amtszeit die hohe absolute Zahl nicht sofort erklären zu können, da relativ gesehen andere Amtsinhaber mit vergleichbaren Amtszeiten (Rennert bzw. Hund) nicht soviele Entscheidungen vorweisen können.

Typ der Entscheidungen Link to heading

Das Verhältnis von veröffentlichten Beschlüssen, Urteilen und Gerichtsbescheiden des BVerwG in der amtlichen Datenbank ist wie folgt:

  1. Beschluss (N = 22.370, relativ: 82.24 %)
  2. Urteil (N = 4.808, relativ: 17.68 %)
  3. Gerichtsbescheid (N = 22, relativ: 0.08 %)

Die Anzahl an Urteilen ist durchaus interessant, ergehen Urteile doch nur nach mündlicher Verhandlung und bedeuten damit deutlich arbeitsintensivere Verfahren als Beschlüsse. Dieser Zusammenhang lässt sich möglicherweise direkt untersuchen oder indirekt nutzen, um die Arbeitsbelastung des Gerichtes abzuschätzen bzw. in statistische Modelle einzuführen.

Gerichtsbescheide sind eine selten gewählte Alternative zum Urteil, die nur in Klageverfahren erster Instanz (ohne mündliche Verhandlung) ergehen können, “wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist” (§ 84 VwGO).

Die geringe Anzahl veröffentlicher Gerichtsbescheide des BVerwG lädt gerade dazu ein, eine traditionelle rechtswissenschaftliche Untersuchung mit close reading aller Texte durchzuführen, vielleicht konstrastiert mit den häufiger auftretenden Urteilen in Klageverfahren.

Soweit ich es im Kopf habe, sind in keinem anderen von mir veröffentlichten Datensatz Gerichtsbescheide enthalten. Definitiv eine Rarität.


  1. Ein “Codebook” ist eine Anleitung bzw. ein Benutzerhandbuch für einen Datensatz. ↩︎